Was ist Krankheit? – Das fehlende Fundament der Schulmedizin

Was ist Krankheit?

Unsere Hochschulmedizin ist mit der Gründung der Schule von Salerno im zehnten Jahrhundert die älteste Universitäts-Disziplin in Europa. Seit jener Zeit hat sich ein unvorstellbar hoher Berg von theoretischen Arbeiten zu ihren Teildisziplinen aufgetürmt, einschließlich aller möglichen Therapiekonzepte.

Aber dieser Babylonische Turm hängt buchstäblich in der Luft: Bis zum heutigen Tage verfügt man nicht über einen allgemein verbindlichen Begriff von Krankheit:[1] Man weiß nicht, was Krankheit ihrem Wesen nach ist!

Sehen wir uns dazu ein für das heutige medizinische Wissen repräsentatives Nachschlagewerk an, das in jeder Arztpraxis aufliegende Klinische Wörterbuch von Pschyrembel.[2] Zu den entsprechenden Stichworten findet man Angaben, die man sich auch von einem Volksschüler erwarten könnte:

Gesundheit: Subjektives Empfinden des Fehlens körperlicher, geistiger und seelischerStörungen.

Krankheit: i.w.S. Fehlen von Gesundheit, i.e.S. Vorhandensein subjektiv empfundener bzw. objektiv feststellbarer körperlicher, seelischer und geistiger Störungen.

Heilung: – – – (keine Angaben!)

Diese Angaben sprechen für sich! Was kann man damit anfangen? Wie will man mit Krankheit umgehen, wenn man gar nicht weiß, was Krankheit ist? Wie will man heilen, wenn das nicht einmal vorgesehen ist?

Wie kann man nur auf einem gar nicht vorhandenen Fundament einen so gigantischen Babylonischen Turm von medizinischer Wissenschaft errichten? Muß dieser denn nicht, wie das biblische Original, einmal zusammenbrechen?

Kein Patient wird es fassen, daß so etwas möglich ist. Ich bin sicher, jeder Laie wird davon ausgehen, daß man diese untersten Grundbegriffe der Medizin längst geklärt hatte, bevor man überhaupt an die Entwicklung irgendwelcher ernsthafter Therapiekonzepte herangegangen ist.

Doch das ist in mehr als tausend Jahren nicht passiert – ausgenommen bei jenen Ärzten, die immer schon ganzheitlich gedacht haben (s. unten), aber die werden nicht anerkannt, ja sie werden verlacht, wenn nicht überhaupt verfolgt.

Bei meinem Bericht über die Anfänge des wissenschaftlichen Denkens in Kapitel 2.1 habe ich eine diesbezügliche Kritik C. F. von Weizsäckers angeführt, die jedoch ganz und gar nicht die alten Griechen betrifft, sondern nur den Gegensatz zwischen damals und heute illustrieren sollte.

Dort sagte er über das heutige Denken, „daß man gewisse fundamentale Fragen nicht stellt.“ [3] Es sind die Fragen nach dem Wesen der Dinge, mit denen man wissenschaftlich umgeht. Wir wissen ja, daß z. B. Sokrates die Menschen mit seinen bohrenden „Was-ist-Fragen“ nervte, also gerade mit seinen Fragen nach dem Wesen der Dinge.

Inbezug auf die Medizin beschreibt die heutige Situation Franz Vonessen als eine „Dystrophie an theoretischen Grundlagen“ [4] und fährt fort: „.. das Selbstbewußtsein der neuzeitlichen Naturwissenschaft begründet sich gerade in der bekannten, riesenhaften Vermehrung theoretischen Wissens. Dieses aber, und das will ich sagen, betrifft nicht die Ersten Fragen, nur die zweiten und dritten.
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Über die Ersten Fragen – in der Neuzeit nennt man sie, was viel sagt, ‚die letzten’! – geht man entschlossen hinweg […] In der Tat besitzen wir nicht einmal einen substantiellen Gesundheits- und Krankheitsbegriff.

Seit vor zweieinhalb Jahrtausenden erklärt worden ist, Gesundheit sei das Gleichgewicht der elementaren Kräfte im Körper, ist nicht viel Neues, auf keinen Fall Besseres, zur Sache gesagt worden. Insofern haben wir auch keinen substantiellen Begriff der Arznei. […]

Unserer gigantischen Heiltechnik, die alle Züge eines babylonischen Turms hat, steht eine erstaunliche – für den Denkenden bedrückende – Armut an Grundannnahmen und klar gefaßten Vorbegriffen gegenüber. Die Waage zwischen Wissen und Verstehen hängt sehr schief; beinahe ist sie am Kippen.“ [5]

Hier dürfte man vielleicht von Weizsäckers bereits in Kapitel 2.1 zitierte Aussage besser verstehen, daß dieses „methodische Verfahren der Wissenschaft, wenn es sich über seine eigene Fragwürdigkeit nicht mehr klar ist, etwas Mörderisches an sich hat.“ [6]

In der Tat ist davon die Gesundheit und letzten Endes das Leben von unzähligen Menschen betroffen: von der fehlenden Erkenntnis des rechten Krankheitsbegriffes.

Wir haben hier, wie in so vielen anderen Hinsichten auch, wieder eine Parallele zur Physik, und in diesem Falle, wie wir sehen, sogar eine besonders tragische. An vielen früheren Stellen, zuletzt in Kapitel 11 (s. insbes. Pkt. 1) habe ich festgestellt, daß die Physik in ihrem ungestümen Fortschrittsdrang sich nicht um ihr wissenschaftstheoretisches Fundament gekümmert hat, sonst wären ihr so manche Probleme erspart geblieben.

Und so wie in der Physik die großen Probleme erst dann entstanden sind, als sie sich von der Alltagswelt, für die sie nach ihrem Grundverständnis konzipiert war, in den unzugänglichen Bereich der Mikrowelt begeben hat, so sind auch die eigentlichen Probleme der Medizin erst mit ihrer Expansion in die weitgehend unzugängliche Mikrowelt der Zellen und darunter entstanden.

Und die vielleicht wichtigste Rolle spielt hier, was das wissenschaftstheoretische Fundament betrifft, der fehlende Krankheitsbegriff.

Ohne sich mit dem Wesen der Krankheit als Zustand des Menschen zu befassen, beschäftigt sich die Hochschulmedizin mit einzelnen Krankheiten als selbständige, vom Menschen abgelöste Entitäten.

Ivan Illich hat eindrücklich  beschrieben, wie es dazu gekommen ist.[7] Man klassifiziert diese neuen Wesen nach betroffenen Organen und einigen der wichtigsten Symptome, vor allem solchen, die man quantitativ messen kann, und gibt ihnen Namen.

Hat schon die Spaltung zwischen Krankheit und Mensch etwas von der cartesianischen Spaltung von Geist und Materie an sich, so spiegelt die detaillierte Klassifikation der Krankheiten nach den betroffenen Organen das Galileische Prinzip des Teilens wider.

Den Menschen als Ganzheit von Organen und Merkmalen hat man dabei aus dem Blick verloren.

Demgegenüber kennt die Erfahrungsheilkunde eine solche Spaltung grundsätzlich nicht, für sie ist das Kriterium einer Therapie allein, daß sich der ganze Mensch danach wieder gesund fühlt, was immer das an meßbaren Organfunktionen bedeuten mag.

Sofern ihr Prinzip gelegentlich verschleiert oder verwässert erscheint, geschieht dies gerade unter dem Druck der alles beherrschenden Hochschulmedizin, um nicht zu sehr als Außenseiter dazustehen.

So mancher mag es vielleicht als eine bloße Behauptung ansehen, daß die Unvereinbarkeit der beiden Lager der Medizin von dem fehlenden Krankheitsbegriff herrührt.[8]

Wir können zunächst nur feststellen, daß sich die Hochschulmedizin als der alleinige, rechtmäßige Vertreter der Wissenschaft vom Heilen sieht und von der Erfahrungsheilkunde als Bedingung einer etwaigen wissenschaftlichen Anerkennung verlangt, daß sie sich ihr gegenüber auf der Grundlage der „anerkannten wissenschaftlichen Methoden“ ausweist – eben jener Methoden, denen die wichtigste wissenschaftliche Grundlage überhaupt fehlt …

Aber versuchen wir jetzt, den Gründen für den fehlenden Krankheitsbegriff nachzuspüren, so können wir die tiefe Kluft der Unvereinbarkeit recht schnell verstehen. Es ist immerhin bekannt, daß es zu allen Zeiten, sogar auch heute, viele Überlegungen zu dieser Frage gegeben hat. K. E. Rothschuh kann uns hierzu eine umfassende Übersicht geben.[9]

Natürlich liefern uns auch die Standardwerke zur Geschichte der Medizin entsprechende Hinweise.[10]

Analysiert man nun die geäußerten Vorschläge, so sieht man, wenn man die Besonderheiten unserer heutigen Naturwissenschaft kennt, daß diese Unvereinbarkeit tatsächlich mit dem vermißten Krankheitsbegriff zu tun hat.

Es zeigt sich nämlich, daß eine recht ansehnliche Gruppe von Ärzten sehr wohl eine feste Vorstellung vom Wesen der Krankheit hatten, und auffallenderweise gerade diese in bester Übereinstimmung untereinander.

Aber ebenso auffallend haben diese denselben gravierenden „Nachteil“: Sie sprechen von Regulation, denken also kybernetisch. Und da die Kybernetik nun einmal auf Information beruht und ohne diese gar nicht denkbar ist, scheuen sie sich auch nicht, das zu postulieren, was im Denken der Hochschulwissenschaft fehlt: eine immaterielle Lebenskraft, „vis medicatrix“, oder wie immer man diese Kraft nennen mag.

Diese regulative Grundlage von Gesundheit und Krankheit findet man schon ganz deutlich im altgriechischen Denken etwa bei Alkmaion angesprochen (s. Kap. 2.4), und auf ihn hat sich wohl auch Vonessen bezogen, wenn er oben davon gesprochen hat, daß seit zweieinhalb Jahrtausenden nichts Neues mehr dazu gesagt worden ist.

Und gerade Alkmaion wird von unseren heutigen, der Physik untertänigen Philosophie-Historikern so sehr verkannt und verurteilt.[11]

Gehen wir weiter, von Hippokrates über Paracelsus in unsere Zeit, die man seit Galilei die naturwissenschaftliche nennt, so finden wir hier noch so manche großen Ärzte, die für diese „vitalistische“ Idee eingetreten sind.

Das sind vor allem G.E. Stahl (1660 – 1734),[12] Chr. W. Hufeland (1762 – 1836),[13] der wohl angesehenste Arzt seiner Zeit, bekannt als Goethe-Arzt und auch durch seinen umfangreichen schriftlichen Nachlaß berühmt, und natürlich auch der Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann (1755 – 1843). Sie alle sprechen ganz klar das aus, was sich auch in unserem Konzept ergeben wird:

Das, was man als Krankheit bezeichnet, ist eine Gesamtheit von Symptomen, die als Zeichen der Selbstheilungsbemühungen des kranken Organismus anzusehen sind!

Solche Vorstellungen passen aber nun ganz und gar nicht in die Philosophie der modernen Naturwissenschaft, in der alles Geistige, „Vitalistische“ samt dem zugehörigen teleologischen Prinzip verpönt ist.

Und so bleibt der Hochschulmedizin nichts übrig, als auf diesen in sich schlüssigen Krankheitsbegriff schlicht zu verzichten und sich von den „alternativen“ Ärzten zu distanzieren.

Mit der Frage aber nach einem anderen Krankheitsbegriff, der sich jedoch nicht denken läßt, sind wir wieder beim Kern aller „ersten Fragen“ überhaupt, wie er in der oben zitierten Kritik von C. F. von Weizsäcker und Vonessen ans Licht gekommen ist:

Jene ersten Fragen der Wissenschaft sind Fragen nach dem Wesen und nach dem Sinn der Dinge, mit denen sie umgeht. Zu diesen Fragen hat das kausale Denken der heutigen Naturwissenschaft keinen Zugang.

Ganz folgerichtig müssen diese hier, wie Vonessen bemerkt hat, zu den letzten Fragen hinausgeschoben werden, die, wie wir wissen, im infiniten Regreß des kausalen Denkens niemals wirklich erreicht werden.

Unsere heutige Naturwissenschaft ist also deshalb prinzipiell nicht in der Lage, diese wichtigsten Grundfragen, deren Beantwortung jede konsistente Wissenschaft als ihre Grundlage voraussetzen muß, zu beantworten!

Aus ähnlichen Gründen ist sie ja auch nicht in der Lage, die Hintergründe ihrer Naturgesetze, auf denen sie alles Weitere aufbaut, zu verstehen. Alle derartigen Fragen muß sie deshalb meiden wie der Teufel das Weihwasser, denn sie führen zu ihrer schwächsten Stelle.

Die Erfahrungsheilkunde andererseits muß nach ihrem eigenen Grundverständnis auf dem Primat der Erfahrung der Heilung bestehen, was auch immer darüber naturwissenschaftliche Theorien befinden mögen.

Sofern man sie also wissenschaftlich verstehen will, muß sie auf einer Klärung des alle Erfahrung begründenden Krankheitsbegriffes bestehen. Niemals kann sie sich zur Beurteilung ihrer Daseinsberechtigung naturwissenschaftlichen Theorien unterwerfen, deren eigene Daseinsberechtigung jeder konsistenten Begründung entbehrt!

Daraus ist nun sicher genügend deutlich geworden, daß es sich bei der Auseinandersetzung zwischen Hochschulmedizin und Erfahrungs- bzw. Naturheilkunde nicht um einen zweitrangigen Konflikt handelt, sondern um das fundamentale Problem des gesamten naturwissenschaftlichen Weltbildes!

Die Erfahrungsheilkunde und insbesondere die Homöopathie haben die eigentliche Schwachstelle dieses Weltbildes aufgedeckt, sie sind zu seiner Crux geworden!

Bei aller harten Kritik wollen wir aber nicht aus den Augen verlieren, daß es in allem Weiteren um die Suche nach einer Verständigung zwischen den beiden Lagern der Medizin gehen muß.

Und diese läßt sich finden, setzt aber voraus, daß man sich auf beiden Seiten aus dem gegenwärtigen materialistischen Korsett befreit und das Geistige in der Welt akzeptiert, nämlich den vertikalen Informationsstrom der Schichtung.

Nur dann hat man eine gemeinsame Basis für ein gegenseitiges Verstehen, wenn man das geistig-kybernetische Wesen von Gesundheit, Krankheit und Heilung wirklich erfaßt hat, wie es schon den altgriechischen Denkern und später Paracelsus, Stahl, Hufeland, Hahnemann und noch so manchen anderen bekannt war.

In diesem Kapitel waren wir noch nicht in der Lage, diese hier gestellten dringenden Fragen zu beantworten, hier konnten wir sie nur stellen.

Man kann aber aus diesen Fragen zunächst doch vieles von der fundamentalen medizinischen Problematik erkennen.

Wir benötigen jetzt noch einige weitere Kapitel, um uns die Grundlagen zu erarbeiten, auf denen wir die gesuchten Antworten finden werden.

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Anmerkungen:
1 Vonessen, 22; Scheurle in: Dokumentation I/1, 638
2 Pschyrembel
3 von Weizsäcker, zit. in: Resch u. Gutmann, 101
4 Vonessen, 21
5 Vonessen, 21
6 von Weizsäcker, zit. in: Resch u. Gutmann, 101
7 Illich, 181 ff
8 Dokumentation I/1, 638
9 Rothschuh
10 Eckart
11 s. das Urteil in: Capelle, 105
12 Rothschuh, 404; Eckart, 173 f
13 Rothschuh, 404; Eckart, 180 f

Dr. rer. nat. Harald Zycha
Dr. rer. nat. Harald Zycha
Dr. rer. nat. Harald Zycha
ist Naturwissenschaftler, hat Physik studiert und in Physikalischer Chemie promoviert.
Er ist Kritiker und Reformator der reduktionistisch-materialistischen Naturwissenschaft sowie Begründer einer ganzheitlich-kybernetischen Medizin der Natur.

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